Von schwer verdaulichen
Würsten zum sozialen Pudding -
Die Kunst des Essens
(Vortrag in der Philharmonie Essen
Saalbau, 27. Juni 2005)

Jacob Jordaens: Fest des Bohnenkönigs, vor 1656
Wir können sicher sein, dass bei
diesem üppigen Mahl keine Wiener Würstchen verzehrt wurden,
nicht etwa, weil sie beim Fest des Bohnenkönigs niemandem geschmeckt
hätten, sondern weil sie erst eineinhalb Jahrhunderte später
erfunden wurden. Auch in der Kulturgeschichte der Lebensmittel haben
alle Rezepte und Speisen ihre Zeiten. Das Rätsel, warum die sonst
überall "Wiener" genannten "Würstel" ausgerechnet
in Wien "Frankfurter" genannt werden, ist leicht gelöst.
Der Fleischselcher Johann Georg Lahner hat die, wie man damals sagte,
"merkürdigen Gebilde" vor zweihundert Jahren erstmals
in seine Wiener Auslage gehängt. Der aus Gasseldorf stammende Metzger
nannte sie eingedenk seiner Ausbildungsstätte "Frankfurter".
Sie wurde rasch zu einem knackigen Welterfolg, sogar Kaiser Franz I.
erklärte sie zu einer seiner Leibspeisen.
Adalbert Stifter, dessen 200. Geburtstag wir auch in diesem Jahr feiern,
hatte das Glück, nur wenige Monate danach zur Welt zu kommen. Ihm
verdanken wir die folgenden Zeilen aus einem Brief an einen Wiener Freund:
"Aber hören wir jetzt mit den Kunstdingen auf, gehen wir zu
etwas Wichtigerem und Ernsterem über... Kaufe mir von dem Geld
so viele edle Frankfurter = Wiener Würstel als du bekömmst."
Bekommen sind sie Stifter nicht, der sich innerhalb kürzester Zeit
neu einkleiden musste, weil er so an Leibesfülle zunahm.
Was damals eine Delikatesse, also Mode war, gehört heute zur Grundausstattung
einer durchschnittlichen Ernährung. Zwar bekommt man Würsteln
sogar im "Sacher", aber nur höchst selten in den zahllosen
neuen Restaurants, die so oft ehrgeizig danach streben, zu Gourmet-Tempeln
zu werden. Die Ausstellung Die Sinalco Epoche. Essen, Trinken und Konsumieren
nach 1945 im "Wien Museum" am Karlsplatz (bis 25. September)
hat Anlass dazu geboten, die Kauf-, Koch- und Essgewohnheiten der Österreicher
historisch zu erforschen.

Erro: Foodscape, 1964
Wie
überall in der "entwickelten Welt" wird festgestellt,
dass manzu viel Süßes isst, zu fett, zu spät am Abend,
und dass es industriell gefertigt werden muss, weil es preiswert sein
soll.
Hierzulande würde man zu keinen anderen Ergebnissen kommen und
daran anschließend fragen müssen, warum die Kritik der Gourmet-Päpste,
Wolfram Siebek & Co. berechtigt ist, dass es nämlich zwischen
den großartigen, wenn auch sehr seltenen Spitzenküchen und
dem ganzen Rest von Fast-food und von Cholesterin tropfenden Fraß
so wenig gute Restaurants gibt. Bevor ich Ihnen die einfache Antwort
auf diese scheinbar von Vorurteilen belastete, komplexe Frage liefere,
zunächst zurück zur Kunst.

Dieter Roth: Georg Wilhelm Friedrich
Hegel: Werke in 20 Bänden, 1974
Die Unterscheidung von Kunst und Essen ist eigentlich nicht schwierig;
interessant wird es allerdings erst da, wo sie zum Problem wird. Wenn
Dieter Roth die zwanzigbändige Suhrkamp-Ausgabe der Werke Hegels
zerkleinert, mit Gewürzen und Schweineschmalz angereichert in Wurstdärme
presst (jede 6x30cm), so hat er das metaphorisch schwer Verdauliche
vereinheitlicht zu Kunst gemacht. Der dritte Band der Phänomenologie
des Geistes unterscheidet sich vielleicht formal (er ist ein paar Zentimeter
länger geraten), aber kaum mehr inhaltlich vom vierzehnten Band
mit dem zweiten Teil der Vorlesungen über die Ästhetik. In
Roths Beitrag zur "Künstlerküche" (Ralf Beil ) finden
sich noch andere Materialen, vor allem die Schokolade, die Maden und
Schimmel ein gutes Überleben sichert.

Dieter Roth: Kleiner Sonnenuntergang,
1968 (Salami)
Das Atelier wird zur Küche, in der Künstler-Köche laborieren,
wogegen die Koch-Künstler mit ihren Köstlichkeiten die Gäste
verwöhnen und sich vor dem ästhetischen Reiz verdorbener Speisen
hüten.
Der Kunst-Genuss spricht offensichtlich andere Sinne als den Gaumen
an, ja kann sich sogar gegen den empfindlichen Geruchsinn wenden. Das
medial auf allen Kanälen zelebrierte Kochen mit Prominenten hat
mittlerweile auch die Museen erreicht. In der derzeit im "Ludwig
Forum für Internationale Kunst" in Aachen (bis 4. September)
gezeigten Ausstellung Zur Kasse bitte! wurde am 19. Juni "Kunst
und Kochen" angeboten, wobei unter der Leitung von Parapluie-Chef
Manfred Rommel ein gemeinsames Kochen und Verzehren stattfand. Hier
wird eine fragile Grenze der Differenzierung erreicht. Wenn ein Meisterkoch
in seiner eigenen Küche kocht, dann ist er sicher ein Koch-Künstler.
Doch wird nicht automatisch aus ihm ein Künstler-Koch, wenn er
dasselbe in einer Galerie oder im Museum macht.

Joseph Beuys: Tierdenkmal, 1961
(Schokolade)
Entgegen dem beliebten Vorurteil der Kunstwelt hat sich im Laufe des
zwanzigsten Jahrhunderts der Kunstbegriff nicht endlos ausgeweitet,
sondern unaufhörlich eingeengt. Der bis zum Überdruss falsch
verstandene Ausspruch von Joseph Beuys "Jeder Mensch ist ein Künstler"
zielte eher auf ein utopisches Projekt, in welchem alle ihre Kreativität
als Kapital mit dem Ziel einer Verbesserung der "sozialen Plastik"
einzubringen hätten, aber nicht auf eine Nivellierung, im Zuge
deren alles und nichts zu Kunst erklärt werden könnte. Beuys
kochte seine Krautsuppe, um der sozialen Plastik Wärme, d.h. Energie
zuzuführen. Während man nach wie vor instinktiv Kunst von
Nicht-Kunst unterscheiden möchte, diente früher der Kunstbegriff
der taxativen Ordnung. Unter den freien Künsten, den "artes
liberales" fand man auch Mathematik und Astronomie, unter den handwerklichen,
den "artes mechanicae" die bildende Kunst. Aber auch die Landwirtschaft
und Medizin, die Schneiderei und das Kochen sprach man als Künste
an. Nur durch den sich wandelnden, diese Künste aus dem Kanon eliminierenden
Sprachgebrauch schien es in den letzten Jahren erstaunlich, auf solche
Bereiche den Kunstbegriff wieder anzuwenden.

Liza Lou: Küche, Detail,
1991-95
In der Eat-Art, der Kunst des Essens
sind drei Stufen zu unterscheiden:
1.
Die zahllosen Essens-Darstellungen von den Stillleben über die
Speiseszenen wie im eingangs gezeigten Gemälde von Jordaens bis
zur schmuckperlenreichen Nachbildung einer Küche von Liza Lou.
Dazu zählen auch die mehr oder weniger realistischen Nachbildungen
der Pop-Kunst.

Claes Oldenburg: Fleisch, 1964
Im weitesten Sinn gehört hier
auch die Dekoration von Geschirr, der Aufbau von Speisetafeln, das internationale
Speise-Design dazu:

2.

René Magritte: Der Zauberer,
1951
Die nächste Ebene betrifft die künstlerische Verwertung und
Instrumentalisierung von Essen. So einfach das klingen mag, so komplex
ist dieser Entwicklungsschritt. Es geht dabei darum, das Gegen- und
Miteinander von Kunst und Essen in eine neue Form zu transponieren.
Essen ist hier nicht mehr nur Objekt der Darstellung und Zierde. Das
gleicht einem Zauberkunststück, so als ob man zugleich servieren,
einschenken, trinken und essen könnte.
Daniel
Spoerri: Restaurant der City-Galerie, 1965
Das geschieht in der künstlerisch-bildhaften Transformation von
verwerteten Resten, wie bei Daniel Spoerri, dem eigentlichen Erfinder
der "Eat Art" im engeren Sinn. Spoerri, der sich in Paris
um 1960 mit anderen, später berühmt gewordenen Künstlern,
von Yves Klein über Jean Tinguely bis Christo, zu der Gruppe der
"Neuen Realisten" zusammenfand, die sich gegen die in den
1950ern herrschende Abstraktion richtete, kann als Neodadaist verstanden
werden. Ausgehend von Marcel Duchamps Piège (= Falle) erweiterte
er die Idee zur Methode. Der Tisch, auf dem gerade ein Menü (ob
im eigenen Lokal in Düsseldorf oder sonstwo) verzehrt worden war,
wird (wie in einer Fotografie) eingefangen und fixiert, sodann aus der
Horizontalen in die Vertikale versetzt, um als Objektbild des bestimmten
Realitätsaussschnittes die Zeit einzufrieren. Das Essen ist dabei
Ausgangspunkt, aber nicht Ziel der Aktion.

Daniel Spoerri: Perspektivisches
Abendmahl, 1988
Für Spoerri ist alles, was mit dem Essen, der Küche, den Küchengeräten,
der Idee des Essens zusammenhängt, potentiell Material für
seine Kunst. Das schließt auch Kochbücher, eigens komponierte
Speisekarten oder eine Untersuchung französischer Heilquellen,
aber auch in seinem Unterricht als Professor mit Studierenden geschaffene
monumentale Nachbildungen des Verdauungstraktes ein. Darüberhinaus
verschränken sich bei ihm auch gefundene Bilder, die er umfunktioniert
oder ergänzt.
Um die Unterscheidung der drei Phasen der Essens-Kunst deutlicher zu
machen, möchte ich sie mit der Kauf-Kunst vergleichen. Auf der
traditionellen Ebene bedeutet es die Darstellung und stilvolle Dekoration
des Kaufaktes, auf der zweiten aber schon die künstlerische Konzentration
auf den symbolischen Akt des Kaufens. Vergleichbar der Falle von Spoerri
wurde hierbei der Einkaufswagen eingesetzt.

Christo: Pousette (Verpackter Supermarktwagen), 1963
Duane
Hanson: Einkaufswagen, 1970

Michael Landy: Closing Down Sale,
1992

Maurizio Cattelan: Less than ten
items, 1997

Sylvie Fleury: Easy. Breezy. Beautiful.
Nr. 6, 2000
Ich zeige hier nur eine Auswahl aus der Fülle künstlerisch
transformierter und verwandelter Einkaufswägen.

Guillaume Bijl: Neuer Supermarkt,
1990
3.
Die dritte Stufe entfernt sich von der traditionellen Kunst so weit,
dass sie noch immer schwer nachzuvollziehen ist. Einen Übergang
bei den Einkaufswägen stellt die Installation von Guillaume Bijl
dar, der keine Objekte schafft, sondern Räume wie Readymades 1:1
nachstellt. Einen Schritt weiter handelt es sich dann um tatsächliche
Einkaufsläden, die sich von einem Tante Emmaladen nicht mehr unterscheiden,
auch nicht darin, dass sie kommerziell nicht erfolgreich zu führen
sind und früher oder später wieder zusperren müssen,
wenn sie keine Sponsoren bekommen. Als Spoerri 1961 in einer Kopenhagener
Galerie einen Krämerladen einrichtete, wurde das Angebot bei der
Vernissage rasch verkauft. Aber jede Essware wurde durch zwei Stempelaufdrucke,
einen mit "Achtung, Kunstwerk" und einen der Galerie, sowie
die Signatur des Künstlers ausgewiesen. Der von der "Wochenklausur"
in Wien eingerichtete Laden verzichtete hingegen darauf, ebnete also
den Unterschied zwischen Kunst und Leben noch weiter ein.
Wenn wir vom Rohmaterial, von den Utensilien in einem Analogieschluss
zum Essen zurückkehren, können wir einen Verzicht auf die
Darstellung des Essens (1. Stufe) und auf die künstlerische Transformation
(2. Stufe) erwarten, wobei die Grenze zwischen Produktion und Rezeption,
zwischen Kunst und Leben aufgehoben ist. Im Lichte von Spoerris Fallenbildern
bedeutet das einen Verzicht auf die Vertikalisierung der Tischplatte
mit den Essensresten, aber eine Teilhabe am Prozess. Mit anderen Worten,
Kochen und Essen werden zu einer Aktion, die sich von Happening und
Performance unterscheidet, weil man keinem Drehbuch folgt und nicht
auf bestimmte Teilnehmer beschränkt ist.
Piero
Manzoni: Devouring Art, 1960
Wenn Piero Manzoni 1960 "Kunst verschlingt", dann ist das
von ihm signierte oder mit Fingerabdruck gezeichnete harte Ei das Kunstwerk,
er selbst als Künstler der Akteur und wir Betrachter passive Rezipienten.

Dieter Roth:
Küche der Rauminstallation Selbstturm, Löwenturm, 1999
Eine Küche von Dieter Roth ist
eine objekthafte Installation (- in seiner malerischen Qualität
fast ein "combine painting" im Sinne Robert Rauschenbergs).
Wem hier der Appetit vergangen ist, dem bietet auch die Kunst einen
Drink an, sozusagen Trink-Kunst.

Ben Vautier:
Drink to forget art, 1971
Noch immer befinden wir uns hier jenseits
der entscheidenden Schwelle, die dort beginnt, wo die Rezipienten zu
Teilnehmern des Produzierens und Kochens und Essens werden. Dies setzt
eine Schulung der Wahrnehmung und eigene ästhetische Erfahrung
voraus. Hier findet sich auch die Antwort auf die eingangs gestellte
Frage, warum es so wenige gute Restaurants gibt. Die Kriterien des Außergewöhnlichen
der 3*-Köche erfassen nur wenige Zahlungskräftige, die Kriterien
des billigen und möglichst großen Schnitzels erfüllen
alle. Wer sich nicht schult und keine kulinarische Kompetenz erwirbt,
kommt nicht in den Genuss ästhetischer Freude beim Essen. Analoges
gilt für die entsprechende Kunst.

Rirkrit Tiravanija, 1994
Tiravanija ist kein Koch, der auf der Documenta oder anderen großen
Ausstellungen aufkocht, sondern ein Künstler, der in der Kunstwelt
für die Besucher kocht. Hier ist die Transformation von Kochkünstler
zu Künstlerkoch vollzogen. Frühere Koch-Ereignisse in der
Kunstwelt waren immer objektorientiert, jedenfalls die Rezipienten passive
Empfänger. Jetzt sind sie am Event beteiligt und werden zu Mitakteuren
der Koch-Performance als einer Art Dienstleistung im Betriebssystem
Kunst.

Rirkrit Tiravanija:
Sozial Pudding, 2003

(Rückseite)
Natürlich stellt sich die Frage, was denn die Kunstwelt davon hat,
auch den "sozialen Pudding" als Kunst zu akzeptieren. Die
Antwort fällt leicht. Wieder integriert sie einen Bereich, der
früher verloren gegangen ist und im Paragone, dem Wettstreit der
Künste ausgeklammert wurde.
In den letzten Jahren hat die Koch-Kunst bisher nicht vorstellbare Dimensionen
erklommen. Auf den Pilgerfahrten zwischen den Koch-Ateliers und Geschmacks-Labors
(z.B. das elBulli von Ferran Adria) hat die Analyse und Reflexion der
Gourmet-Kritik (wie die wahrhaft globale Dimensionen umfassenden Gourmet-Reisen
von Jeffrey Steingarten) ein Niveau erreicht, von dem die im Gegensatz
dazu verbraucht wirkende Kunstkritik nur träumen kann. Im Vergleich
zu den alchemistischen Meisterköchen wirkt das Gros der bildenden
Kunst unserer Tage wie grobes Handwerk.
Der Filmer Peter Kubelka lehrte an der renommierten Frankfurter Städel-Schule
als Professur für Kochen. In seinen Performances erklärte
er mittels Kochen die Welt. Da wurde nicht das Essen zur Kunst, sondern
das Kochen zur Wissenschaft. Es wird sich weisen, ob die Universität
als Stätte der Wissenschaften auch von den Künsten zu profitieren
vermag, damit sie nicht nur ein Labor des Denkens, sondern eine Küche
der Ideen wird.
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