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Cowboy oder Indianer?
Picasso und die Theorie

  1. Die Pose des wilden Roten
  2. Das Paradigma der Unterhose
  3. Picassos „Theorie“
  4. Lüge oder Wahrheit
  1. Die Pose des wilden Roten

Picasso wusste um seine einzigartige Stellung in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Nur an Henri Matisse wollte er sich messen, in ihm sah er seinen Gegenpart, mit ihm wurde er ständig verglichen. Selbstbewußt behauptete er, sie beide verträten Nord- und Südpol. Das Wechselspiel der beiden Meister ist ein spannendes, von Yve-Alain Bois aufgearbeitetes Kapitel der Kunstgeschichte. 1 Der Abstraktion standen sie mit ähnlichen Argumenten verständnislos gegenüber. Die darauf zielenden Bemerkungen der beiden Künstler sind fast austauschbar. „Man geht zunächst von einem Gegenstand aus. Die Empfindung folgt nach. Man geht nicht von einem Nichts aus.“ 2 Erst mit der zweiten Welle der Abstraktion nach dem II. Weltkrieg, die die Ecole de Paris beherrschte, fanden sich Picasso und Matisse unvermutet am selben Ufer. Der roi de fauves, wie Matisse genannt wurde, der dem zwölf Jahre jüngeren Spanier beim ersten Treffen 1907 eine afrikanische Maske zeigte, die Picasso an dem Abend nicht mehr loslassen wollte, war ein „Wilder“. Diese Eigenschaft wurde gewissermaßen als eine avantgardistische Selbstverständlichkeit angesehen, sodass es hierin gar keinen Gegensatz geben konnte. Beide blieben bis zuletzt der Natur verpflichtet, auch dort, wo man sie im Bilde nicht mehr wahrnehmen hätte konnen.

In der epochalen Ausstellung The Spiritual in Art: Abstract Painting 1890-1985, veranstaltet vom Los Angeles County Museum of Art 1986 3 wurde das Ausmaß der Verdrängung der Wirklichkeit in der Kunst des 20. Jahrhunderts deutlich. Die Großmeister der Abstraktion bedienten sich theoretischer Hilfsmaßnahmen, die man seit Wassily Kandinskys Über das Geistige in der Kunst (1912) als das Geistige titulierte. Die Abwendung von der Darstellung der körperlich-dinghaften Wirklichkeit wurde durch die Repräsentation einer höheren Realität gerechtfertigt. Immerhin wurde damit nicht weniger als die Ambition der nachmittelalterlichen Kunst beendet, die man seit Alberti als Fenster in die Wirklichkeit umschrieb. Ohne eine Berufung auf übersinnliche Phänomene hätte man nicht „zurück“ zur Oberflächenästhetik der vorneuzeitlichen Malerei gefunden. Man wusste zwar nicht, wie man sich das Übersinnliche vorzustellen hätte – keineswegs handelte es sich um einen Rekurs auf christliche Grundwerte -, dafür erlangte man jede Freiheit, Bilder unabhängig von realen Eindrücken zu konzipieren. Insofern bezeichnet die Abstraktion die Freiheit wie die Willkür. Mark Rosenthal wählte als Untertitel seiner Abstraction in the Twentieth Century: Total Risk, Freedom, Discipline. 4 Um sich den Vorwurf zu ersparen, lediglich dekorativ oder ornamental zu gestalten, wovor sich etwa Kandinsky ängstigte, entwarf man ein theoretisches Reglement, das die gerade gewonnene Freiheit im gleichen Atemzug zu persönlichen Stilen verengte oder disziplinierte.

Die theoretischen Schriften von Wassily Kandinsky, Piet Mondrian, Kasimir Malewitsch u.a. gehören zum Kanon kunsthistorischer und kunstkritischer Pflichtlektüre. Der populärste Künstler der Moderne fehlt in diesem Reigen. Er taucht im monumentalen Katalog Das Geistige in der Kunst nur einmal mit einem Frühwerk aus dem Jahr 1901 Evokation (Das Begräbnis des Casagemas) auf. 5 So revolutionär Picassos Impulse für die auf weite Strecken ihrer Entwicklung ohne den Kubismus undenkbare moderne Kunst auch gewesen sein mag, der Hang zur Esoterik fehlte ihm völlig. In Gesprächen mit Picasso ging es nicht um Theosophie und Anthroposophie, um obskure Mehrdimensionalitäten und alte mystisch-magisch-alchemistische Traktate, sondern um das Wunder der Erscheinungen und den Künstler selbst. Wenn Picasso sich einmal zu grundsätzlichen Fragen äußert, dann bleibt er allgemeinverständlich. So beleuchtet er die so lange heikle Rolle der Fotografie pragmatisch. In Zeiten der Fotografie kann sich die Malerei die von der Fotografie besser geleistete naturalistische Wiedergabe der Wirklichkeit ersparen, meinte er einmal zu Brassaï. 6 Seine sich auch in unendlichen Fotos von ihm selbst manifestierende Wandlungsfähigkeit wurzelt in seiner Persönlichkeit. Nicht welcher Geist ihn umwehte, sondern welche Formen ihn beeinflussten, und wie er sie sich anverwandelte, ist entscheidend für seine Kunst.

Hier wird ein merkwürdiger Umstand deutlich. Alle Avantgardisten blickten in andere Welten, „machten das Unsichtbare sichtbar“ 7, der Einflussreichste von allen aber verzichtete auf unklare Gedanken. Der im südlichen Spanien wurzelnde Picasso benötigte keine Ersatzreligion, sondern verblieb im sinnlichen Erleben des theorielosen Katholizismus. Als der Dichter Max Jacob zum Katholizismus konvertierte, zögerte Picasso nicht, die Rolle eines Taufpaten zu übernehmen. In Spanien (und besonders in Andalusien) habe nie das räumliche Denken der Renaissance obsiegt, liest man manchmal zur Erklärung dafür, dass drei der größten Maler Europas Spanier waren: Diego Velázquez, Francisco de Goya und Pablo Picasso. Alle drei waren keine Meister der Perspektive, bzw. umgekehrt, sie wehrten sich gegen das starre Schema des euklidischen Raumes.

Einer der bekanntesten Aussprüche Picassos lautete: „Ich suche nicht, ich finde.“ 8 Picasso zielte nicht, sondern sammelte, er war kein Cowboy, sondern der dem Ursprünglichen nahe Indianer. Zwischen den beiden mythischen Polen westlicher Auseinandersetzungen wechselte er die Rollen, je nach Frau, Laune, Sonnenschein, Gesprächspartner. Doch der Cowboy mit dem Objekt im Visier entspricht noch immer dem punktuell-perspektivischen Blick, den Picasso eingetauscht hat, indem er nicht durch das Fenster blickte, sondern die Umwelt durch das Fenster auf ihn. „Mit dem Revolver in der Hand“ bezeichnete in den Auseinandersetzungen des Surrealismus eine bestimmte Haltung: „Vor die immer wiederkehrende Alternative des Surrealismus gestellt: ‚Mit dem Revolver in der Hand auf die Straße gehen’ oder ‚In die Kunst zurückkehren’, entschieden sich Breton und Eluard für den zweiten Weg.“ 9 In diesem Sinn galt die Alternative nicht für Picasso, der durchaus den Erfolg suchte.

1961 starb Gary Cooper sechzigjährig an Krebs. Ein Jahr davor besuchte er Picasso in Cannes und brachte die Wildwest-Ausrüstung mit. Picasso posierte sofort rauchend mit dem Revolver. 10 Cooper hatte Picasso schon zwei Jahrzehnte früher in La Californie in Cannes besucht. Damals schenkte er ihm den Kriegsschmuck eines Indianer-Häuptlings aus Adlerfedern. Picasso fühlte sich sofort in seinem Element. Er stellte sich an die Wand und befestigte das Ende des dort hängenden Stierschwanzes, den der am Anfang seiner Karriere stehende Torero Luis Miguel Dominguin bei einer Corrida geschenkt bekommen hatte, 11 unter der Krempe des Federnschmucks und machte ein wildes Gesicht. David Douglas Duncan fotografierte ihn sofort. 12

           

Der dem Ursprung nahe Wilde, der (scheinbar) keinen Regeln, außer seinen eigenen folgt, das entsprach ihm besser. In dieser gespannten Pose ließ er seine physische Kraft gegen alle Kolonialisten der Geistigkeit in der Kunst aufblitzen. Das Wilde bei Picasso hat viele Aspekte: die Vorliebe für den Stierkampf, für die afrikanische Plastik, für streunende Katzen. Nicht weniger wild erscheint Picasso auf einer Aufnahme von Robert Capa mit einer Halbmaske (Vallauris 1949).

Picasso identifizierte sich naturgemäß mit den Roten. Das erklärt, warum er der Kommunistischen Partei beitrat. So sieht er aber auch die Spanier: „Nur daß die Spanier Gewalttätigkeit und Grausamkeit lieben; sie sehen gern Blut, sie wollen Blut sehen, Blut vergießen: Blut von Pferden, Blut von Stieren, Blut von Menschen... Ob ‚Weiße’ oder ‚Rote’, ob man Priester oder Kommunisten schindet, immer ist es die gleiche Freude am Blutvergießen ... Auf diesem Gebiet sind sie unschlagbar...“ 13 Der Wilde benötigt keine Theorie, man billigt ihm auch den Verzicht auf Bildung zu, es sei denn, man ergänzt das Klischee durch ein weiteres, nämlich des weisen Wilden: „Niemand hat Picasso je mit einem Buch in der Hand gesehen, und doch hat er alles gelesen und alles behalten.“ 14

2) Das Paradigma der Unterhose

        

Das Bild ist auch durch die Beobachtung zu ergänzen, dass es unzählige Fotos vom halbnackten Picasso gibt, z.B. des 76jährigen Tanzenden, das Duncan in La Californie aufgenommen hat. Das wäre bei allen „Bürgerlichen“ undenkbar, ganz gleich, ob sie sich im Rahmen der Gesetze oder außerhalb der Dogmen als künstlerische Outcasts und damit als Neuerer bewegten. Es mag die Fotos der Künstler in Bade- oder Unterhosen geben, aber sie haben sich nicht eingeprägt: Mondrian, Malewitsch, Kandisnky, Klee, Duchamp ohne Hemd und Socken? Ist es da zu viel gesagt, wem es an Vitalität mangelt, der benötigt eine Theorie? Erst aus den späten 1988er und 1990er Jahren prägen sich Selbstbildnisse in der Unterhose von Martin Kippenberger ein. Und es ist kein Zeichen von Kraft – Kippenberger wurde nicht älter als 44 -, sondern von hemmungslosem Witz. Dass er dabei den Vergleich mit Picasso impliziert, zeigt eine Einladungskarte aus dem Jahr 1985 zu seiner Ausstellung auf Tenerifa, wo er ohne weitere Erklärung ein Foto von Picasso in der Badehose mit Bademantel und Hund verwertet.

Anlässlich einer Ausstellung zu Kippenbergers 50. Geburtstag erscheint in der taz eine Besprechung, in welcher dieser Bezug gleich im ersten Satz thematisiert wird: „Picassos letzter Sohn zieht sich aus bis auf die Unterhosen: In Karlsruhe zeigt das Museum für Neue Kunst eine große Retrospektive mit Arbeiten von Martin Kippenberger.“ 15 Der Künstler in der Unterhose ist ein kunsttheoretisches Statement. Einen Tag später stellt ein anderer Beobachter diesen Zusammenhang her: „Zusammen mit seinem Freund Albert Oehlen karikierte er die großformatige Bedeutungshuberei der Neuen Wilden, denen er mit wüsten Unterhosenbildern antwortete. Denn auch Vorbild Pablo P. hatte sich noch als alter Mann gern in Unterhosen fotografieren lassen - nichts konnte den wirklich entstellen. Und Kippenberger verstand sich als Antipode zu dem filzigen Schamanen Joseph Beuys, der sich mit Hut und Weste wie ein Priester inszenierte... – Beuys’ Diktum ‚Jeder Mensch ist ein Künstler’ konterte Kippi mit einem knappen ‚Jeder Künstler ist ein Mensch.’“ 16

Ungeachtet des Epithetons „Neue Wilde“ war der Unterhosen-Künstler Kippenberger der eigentliche „Wilde“, der sich wie Picasso von den „Bedeutungshubern“, also den ohne Hilfe der Theorie verzagenden Kollegen, abheben wollte. Lassen wir uns in diesem Vergleich nicht davon beirren, dass im ethnografischen Sinn Indianer keine Unterhosen zur Schau trugen – sie hatten einfach keine. Sie hätten sich schon dafür interessiert: „Die Indianer haben sich durchaus mit anthropologischer Neugier für die Kleidung des Ethnographen interessiert, Koch-Grünberg beklagt sich jedenfalls in einem seiner Berichte darüber, dass ihm eine Unterhose gestohlen worden sei. 17

Der spanische Macho genoss es offensichtlich, sich halbnackt vor allem jungen Besucherinnen zu präsentieren. „‚Komisch’, sagte Marina, ‚ich habe ihn zum ersten Mal gesehen, und es kommt mir vor, als ob ich ihn schon immer gekannt hätte... Unter uns gesagt: er wirkt besser in Shorts und nacktem Oberkörper als in seinem Straßenanzug. Angezogen wird er zu sehr ‚Herr’, und die Krawatte steht ihm überhaupt nicht. Aber in Shorts war er toll...“ 18 Die nächste Notiz von Brassaï erfolgt eineinhalb Jahre später (26.11.1946), aber wir lesen gleich wieder: „Picasso, erscheint mit nacktem Oberkörper, braun wie ein Sioux-Häuptling, mit blankrasiertem Schädel, das Gesicht von Wind und Sonne gegerbt...“ 19 Niemand kann sich daran erinnern, dass jemals die Heroen der Abstraktion in dieser Weise beschrieben worden wären, eher fällt es schwer, sich Kandinsky oder Mondrian ohne Krawatten vorzustellen. Für Picasso war es selbstverständlich. „Es ist also wohl eine alte Angewohnheit. Fernande erzählt, daß er im Bateau-Lavoir im Sommer die Besucher manchmal in kurzen Unterhosen empfing und daß einige schamhafte Leute ihn baten, sich doch Hosen anzuziehen...“ 20

3) Picassos „Theorie“
Angesichts der schillernden Vielfalt seiner Masken ist Picasso nicht vor eine Alternative zu stellen. Als Indianer wird er wohl lieber posiert haben, doch passen dem überragenden Meister künstlerischer Anverwandlung auch andere Rollen. Nach einer für ihn typischen Theorie wird man vergeblich fahnden. Man hat den Eindruck, dass die zahllosen Texte über ihn diesen Aspekt ausklammern, als sei er unangemessen oder überflüssig. Gegen die kubistischen Maler, die glaubten sich rechtfertigen zu müssen oder die „Schwachköpfe“, die ihm sogar erklären wollten, wie er gemäß irgendwelchen Regeln hätte malen sollen, hat er polemisiert. „Gutwillige Forscher mögen sich in die Fahrzeuge solcher Theorien einschiffen: umso besser! So gehen die Schwachen zugrunde.“ 21 „All das ist nichts als Literatur, um nicht zu sagen Unsinn, und hat nur üble Folgen gehabt, weil die Leute vor lauter Theorien blind wurden.“ 22 Man spürt in solchen Aussagen seine Aversion gegen blutleere „geistige“ Malerei und die Verhöhnung jener Künstler, die über irgendwelchen Schriften brüten. „Die Idee der Untersuchung hat die Malerei oft auf Irrwege geführt, und der Künstler hat sich dabei nur in theoretischen Arbeiten verzettelt. Das ist wahrscheinlich der größte Fehler der modernen Kunst. Diese Einstellung hat jene Maler vergiftet, die all die positiven und entscheidenden Elemente in der modernen Kunst nicht völlig verstehen, und sie veranlaßt, das Unsichtbare – und das heißt, das Unmalbare – malen zu wollen.“ 23

Wir können uns hier darauf beschränken, seine Aussagen auf wenige Aspekte hin abzusuchen, auch wenn sie kein System oder Ziel ergeben, nach dem er gestrebt hätte. In Anlehnung an Arnold Gehlens Diktum der Kommentarbedürftigkeit der modernen Kunst, 24 kann man folgern, dass sein Werk nicht hermetisch verschlossen bleibt, und es keines Spezialwissens bedarf, sich seinen unendlichen Metamorphosen zu stellen. Die sich anbietenden Fragen betreffen den mimetischen Aspekt, wie er es mit der Wirklichkeit und Fragen der Nachahmung und Ähnlichkeit hielt; zweitens den Prozess der Werkentstehung; schließlich die schon angesprochene Abstraktion.

Von Picasso ist nicht zu erwarten, dass er an die naturalistische Wiedergabe der Natur glaubt, obwohl er sich darum bemüht, „die Natur nicht aus den Augen zu verlieren.“ 25 „Objektivität“, vielmehr den Glauben an die „Objektivität“ nennt er einmal ein Bettlaken, das man sorgfältig falten und in einem Wandschrank ein für allemal einschließen solle. 26 Die Natur ist nicht einfach da, um betrachtet zu werden. Unsere wandelbaren Vorstellungen von der Natur sind falsch. „Alle geben sie das Leben ‚mit den Augen des Künstlers’ wieder. Alle Vorstellungen, die wir von der Natur besitzen, verdanken wir Malern. Wir sehen sie durch ihre Augen.“ 27 Das ist ein formales Argument, es geht nicht um eine Welterklärung, sondern um die Visualisierung der Wirklichkeit. Das funktioniert nicht ohne „Ähnlichkeit“. „Ich bemühe mich immer um Ähnlichkeit... Ein Maler muß die Natur beobachten, darf sie aber nie mit der Malerei verwechseln. Natur ist nur mit der Hilfe von Zeichen in Malerei übersetzbar. Aber ein Zeichen erfindet man nicht. Man muß sich intensiv um Ähnlichkeit bemühen, damit sich schließlich die Zeichen herauskristallisieren.“ 28

Wenn Picasso den Malprozess schildert, klingt das manchmal so, als ob es Zeichen gäbe, die dann besonders der Wirklichkeit nahekämen, ihr ähnlich seien. Aber Picasso sucht ja bekanntermaßen nicht, sondern er findet. Er findet seine Formulierungen nicht in einem zielgerichteten Prozess. Am liebsten ist ihm die leere Leinwand: „Wenn ich so weitermache, setze ich bald Unterschrift und Datum auf eine völlig unberührte Leinwand. Eine unberührte Leinwand ist etwas so Schönes – finden Sie nicht auch?“ 29 Doch diesen Zero-Standpunkt konnte er wohl selbst nicht durchhalten. Wer so schnell „zeichenhafte“ Striche zu setzen vermag, dem erscheint es müßig, sich aksetisch zurückzuhalten. Die Werkentstehung legt offen, warum er keiner Theorie bedurfte. Picassos an der Natur orientierten Gestaltungen erfolgen nicht mit dem Ziel auf ein vollendetes Bild, sondern in den prozessualen Stadien der Gestaltung selbst. Für ihn folgt bei einem Gemälde ein erhaltenswertes Stadium nach dem anderen. Doch diese Phasen sind nicht zu fixieren, es sei denn durch einen Film. So kann man in einem Film von Clouzot die Stadien des Malens beobachten, wo zuerst ein Huhn im Profil erscheint, das dann vom Antlitz eines Fauns überlagert wird. 30 Dabei ist entscheidend, dass es keine „Entwicklung“ in Picassos Malerei gibt, sondern nur den „Wechsel“. Das gilt für ein Bild, aber auch für das Gesamtwerk. „Für mich gibt es in der Kunst weder Vergangenheit noch Zukunft. Wenn ein Kunstwerk nicht immer lebendig in der Gegenwart lebt, kommt es überhaupt nicht in Betracht.“ 31

Mit anderen Worten, für Picasso steht die Vorstellung des Bildes nicht a priori fest, sondern entsteht beim Arbeiten. „Während man daran arbeitet, verändert es sich im gleichen Maße wie die Gedanken. Und wenn es fertig ist, verändert es sich immer weiter, entsprechend der Gemütsverfassung desjenigen, der es gerade betrachtet.“ 32 „Fertig“ ist das Bild nie, es stürbe daran. „Hat man schon jemals ein fertiges Bild gesehen? Ein Bild oder irgend etwas anderes? Weh dir, wenn du sagst, du wärst damit fertig!... Ein Werk beenden! Ein Bild vollenden! Wie albern ist das! Einen Gegenstand beenden heißt ihn fertigmachen, ihn umbringen, ihm seine Seele rauben, ihm wie dem Stier die puntilla geben! Ein Werk vollenden bedeutet für Maler und Bildhauer etwas sehr Ärgerliches: Es heißt ihm den Gnadenstoß geben!“ 33

In einem solchen Kampf in der Arena der Kunst sind die Werke gegeneinander offen, wogegen die Abstände zwischen „abstrakten“ Werken substanziell sind. Um diesen dritten Punkt näher zu beleuchten, sind die wenigen Bemerkungen Picassos über Abstraktion zu betrachten. Er hat nie abstrakt gemalt, weil er deren Ziel und Sinn nicht verstanden hat. Sie läuft seiner eigenen protëischen Kreativität entgegen. „Es gibt keine abstrakte Kunst. Man muß immer mit etwas beginnen. Nachher kann man alle Spuren des Wirklichen entfernen. Dann besteht ohnehin keine Gefahr mehr, weil die Idee des Dinges inzwischen ein unauslöschliches Zeichen hinterlassen hat... Man kann nicht gegen die Natur angehen, sie ist stärker als der stärkste Mann.“ 34 „Es gibt auch keine ‚figurative’ und ‚nichtfigurative’ Kunst. Alles erscheint uns in Gestalt einer ‚Figur’.“ 35

Picasso beschreibt hier nicht die Entstehung eines abstrakten Bildes, sondern das Abstrahieren, wie er es virtuos an der Stier-Serie vom 5. Dezember 1945 bis 17. Januar 1946 vorgeführt hat. Es führt zur äußersten Reduktion, allerdings in (chronologisch verkehrter) alter kunsthistorischer Terminologie vom Malerischen zum Linearen. Es bedeutet keine Einschränkung des Jahrhundertgenies, wenn man diese Grenzen zieht, sie ermöglichten ihm auch, nicht in die Beliebigkeit abzustürzen. „... die von Picasso selbst für sich in Anspruch genommene Entwicklungslosigkeit... und das heißt Geschichtslosigkeit sowie die Reduktion der Kunst auf pure Anschaulichkeit bezeichnen die Grenzen seiner Kunst.“ 36

4) Lüge oder Wahrheit
Eine schöne Beobachtung Picassos betraf ganz allgemein die Wahrnehmung der Wirklichkeit. „Um ein Ding zu sehen, ist es nötig, alle Dinge zu sehen.“ 37 Das umschreibt das aperspektivische Schauen, das sich vom punktuellen Sehen unterscheidet (noch einmal Indianer gegen Cowboy). Die Aufmerksamkeit richtet sich bei ihm immer auf die Umwelt, auf formale Varianten, für die Theorien ein Hindernis darstellen. Wassily Kandinsky sieht gänzlich anders. Die Einleitung zu Punkt und Linie zu Fläche beginnt mit einer für einen mit der visuellen Wirklichkeit befassten Künstler überraschenden Alternative: „Jede Erscheinung kann auf zwei Arten erlebt werden. Diese zwei Arten sind nicht willkürlich, sondern mit den Erscheinungen verbunden – sie werden aus der Natur der Erscheinungen herausgeleitet, aus zwei Eigenschaften derselben:
                  Äußeres – Inneres.“ 38

Aus heutiger Sicht kommt man dieser Aussage mit Logik nicht bei. Was sollen denn innere Eigenschaften einer Erscheinung sein – die sich noch dazu von äußeren unterscheiden? Handelt es sich dabei nicht einfach um persönlich erlebte Reaktionen, die bei jedem anders „aussehen“? Wichtiger noch als diese oft kommentierte Unterscheidung und die fragwürdige Instanz der „inneren Notwendigkeit“ ist jedoch Kandinskys Entwicklung der Formen. Er beginnt nicht bei „allen Dingen“ (wie Picasso) und sie entwickeln sich auseinander (was Picasso völlig abgelehnt hat). Der Anfang der Formen ist gewissermaßen der Anfang der Welt, der Punkt als Urknall, der sich durch Bewegung in die erste Dimension der Linie entfaltet. Daher gibt es auch ein „Ziel“, das Kandinsky in der „’Einheit’ des ‚Menschlichen’ und des ‚Göttlichen’“ sieht. 39 Wie für Mondrian oder Malewitsch handelt es sich bei dieser metaphysischen Einheit um eine Utopie, Picasso hätte vermutlich von einer blutleeren Utopie gesprochen. Bazon Brock subsummiert die aus dem Nichts Schaffenden polemisch als Gottsucherbande. 40 Dieser Club weiß, was die Wahrheit ist, nämlich die Realität ohne die sie verschleiernden Formen. Kandinsky, Malewitsch und Mondrian zeigen in ihren Bildern die von der Wirklichkeit verschleierte zeitlose Wahrheit, auf welche sie alle anderen, die sie nicht sehen, mit ihren Theorien hinweisen. Malewitsch schreibt einmal unübertreffbar, dass die Natur nichts nachahme – weshalb sollte man dann derartiges versuchen.

Ganz im Gegensatz zu den Intentionen Kandinskys hat besonders die Theorie ihm keine Lorbeeren für seine Malerei eingebracht. Stellvertretend dafür wurde immer wieder eine Kritik des Kunstkritikers Nikolaj Punin herangezogen, der anlässlich einer Ausstellung in Petrograd (1916) kein Erbarmen mit Kandinsky als Künstler kannte: „... nicht nur glaube ich an die absolute, tiefe Ernsthaftigkeit dieses Malers, ich glaube auch, daß dieser Maler Talent hat. Gleichwohl sind Kandinskys künstlerische Leistungen unerheblich.“ Er nennt ihn einen schlechten Handwerker und einen vulgären und überaus mittelmäßigen Künstler, einen romantischen, wirren Maler, der nichts von Form weiß und noch weniger von räumlichen Beziehungen. „Um so betrüblicher ist es, sehen zu müssen, daß dieser Künstler keine wahre Kunst gefunden hat, weil er nicht lernen konnte, oder nicht lernen wollte, in malerischen Begriffen zu denken...“ Dieser vernichtenden Bilanz schickt John E. Bowlt 1980 die affirmative Bemerkung hinterher: „Möglicherweise ist Punins Einschätzung zutreffender, als uns lieb ist“ 41, die im Katalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt 1989 wiederabgedruckt wurde.

Die einflussreiche Theorie Kandinskys hat nicht seine Malerei gerettet, sondern sie oft in schiefem Licht erscheinen lassen. Niemand wird heute so ein Urteil fällen, vielleicht weil man im Laufe des Jahrhunderts seit Über das Geistige in der Kunst (1912) gelernt hat, wie schwach seine Theorie im Vergleich zu seinen Gemälden ist. Aber es kann keinen Zweifel geben, dass Kandinskys Illusion, die Abstraktion aus dem „Geistigen“ und im „Inneren“ ableiten zu können, manche Autoren unnötig abgelenkt hat. Felix Thürlemann hat eine Reihe von vernichtenden Urteilen gesammelt. Unter den Kritikern finden sich auch große Namen: Fritz Burgers (1912), Curt Glaser (1912), Kurt Martens (1912), Wilhelm Michel (1912), Karl Scheffler (1913), Tietze (1914), Carl Einstein (1926), Wilhelm Hausenstein (1957). Arnold Gehlen schreibt noch 1960, „dass ohne seine eigenen Kommentare die Bilder überhaupt schlechtweg unverständlich sind.“ 42

Auf den Punkt gebracht hat es schon Michel, der schrieb, dass Kandinskys Kunst ohne den theoretischen Schlüssel unverständlich, mit diesem Schlüssel aber sprachlich zu arm sei. 43 Und noch Hausenstein schlägt Jahrzehnte danach in dieselbe Kerbe: „Ich bin mehr und mehr der Meinung, dass Kandinsky nichts ist – oder, damit nicht zu viel (oder zu wenig) gesagt sei, nicht viel mehr als nichts.“ 44 Schlimmer geht es nicht. Über Picasso hat man meist nur geunkt, er sei ein Scharlatan, der sich über die Menschen lustig mache. 45 Das gilt offenbar noch heute, denn der beschwichtigende Klappentext von Gohrs Picasso-Buch spielt noch immer mit diesem Klischee: „Für die einen ist Picasso das größte Kunstgenie des 20. Jahrhunderts, für andere einfach ein sehr begabter Scharlatan.“ 46 Kann man wirklich heute noch das Publikum mit Picasso schrecken, um ihm so die Lektüre schmackhaft zu machen? „In diesem Buch gibt der ausgewiesene Picasso-Kenner Siegfried Gohr einen wunderbar lesbaren Überblick zu Leben und Werk dieses großartigen Künstlers.“ 47 Kandinsky hatte dagegen nicht das Zeug zum „Scharlatan“. Er reagierte 1919 auf die verheerenden Urteile mit Trotz. Wenn Kritiker in seinen älteren Bildern eine gewisse Begabung spürten, dann sei das ein Zeichen der Schwäche (der Bilder nämlich). Ein guter Beweis zunehmender Kraft aber sei es, wenn man angesichts der späteren Gemälde Verwirrung, eine Sackgasse, einen Niedergang und Pfuscherei feststellte. 48

Heute sind solche Urteile obsolet geworden. Kandinsky der Maler ist einer der modernen Klassiker und seine Texte sind auf Grund der Rezeptionsgeschichte wichtige Dokumente, wenngleich sie als Interpretationshilfen kaum nützlich sind. Das gilt analog für andere, wie Malewitsch und Mondrian. Texte beweisen keine Wahrheiten der Kunst, weil Kunstwerke ohnehin Lügen sind. Das ist nicht mithilfe esoterischer Spekulationen zu widerlegen, vielmehr eine Sache des Temperaments. Nicht die Abstrakten riskierten eine so waghalsige Behauptung, nein Picasso erlaubte sich eine derartig lakonische, wenn auch dialektisch gewendete Wahrheit.: „Wir wissen alle, daß Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können.“ 49 Die Abstrakten hätten einen Augenblick gezögert, dem zu widersprechen -  schließlich argumentiert Picasso auch damit, dass die Kunst die Wahrheit zu begreifen lehre. Doch als Platonisten sahen sie diese nicht in den an die Wirklichkeit angelehnten Zeichen, sondern in den entschleierten Ideen, die sie für göttlich hielten, bzw. im Nichts: „Wenn es eine Wahrheit gibt, so nur in der Gegenstandslosigkeit, im Nichts!“ 50

 

Anmerkungen:


1 Yve-Alain Bois: Matisse and Picasso. Kimbell Art Museum. Flammarion, Paris 1998 (freundlicher Hinweis von Gabriele Schor)

2 Henri Matisse in einem Gespräch mit André Verdet im Frühjahr 1952. Henri Matisse: Über Kunst, 1973. Diogenes, Zürich 1982, S.260

3 Maurice Tuchman – Judi Freeman (Hg.): Das Geistige in der Kunst. Abstrakte Malerei 1890-1985. Verlag Urachhaus, Stuttgart 1988

4 Mark Rosenthal: Abstraction in the Twentieth Century: Total Risk, Freedom, Discipline. Guggenheim Museum, New York 1996. Zwar gewährt der umfangreiche Katalog Picasso die erste Abbildung. Diese und ein paar ergänzende Bilder illustrieren aber lediglich die Rolle des Kubismus für die Abstraktion.

5 Katalog (Anm.3), S.38

6 Brassaï: Gespräche mit Picasso. 1964. Rowohlt TB, Reinbek bei Hamburg 1985, S.41

7 „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ (Paul Klee, 1918)

8 Das vollständige Zitat lautet: „Was ist Kunst? Wenn ich es wüßte, würde ich es für mich behalten. Ich suche nicht, ich finde.“ Zit. nach: Walter Hess: Dokumente zum Veständnis der modernen Malerei. 1956, Rowohlts Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg  1988, S.87

9 Brassaï (Anm.6), S.15

10 Das Foto schmückt den Umschlag von Siegfried Gohr: Ich suche nicht, ich finde. Pablo Picasso – Leben und Werk. DuMont, Köln 2006. Allerdings wird das Foto im Impressum des unbekannten Fotografen 1958 datiert.

11 Dominguin wurde 1944  achtzehnjährig Matador.

12 http://www.hrc.utexas.edu/exhibitions/online/ddd/gallery/picasso/

13 Brassaï (Anm.6), S.90

14 Brassaï (Anm.6), S.99

15 Georg Patzer: Der Spiderman der Kunst. In: die tageszeitung, 20.2.2003

16 Christian Gampert: The Magical Misery Tour . In: Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung  09, 21.02.2003

17 Thomas Schwarz: Deutsche am Amazonas. Forscher oder Abenteurer? Expeditionen in Brasilien 1800 bis 1914. LIT Verlag 2002. In: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&count=5562&recno=1&sort=verfasser_herausgeber&order=up&id=1897&segment_ignore=128&re=211

18 Brassaï (Anm.6), S.140

19 Ebda.

20 Brassaï (Anm.6), S.117

21 Zit. nach Hess (Anm.8), S.80

22 Ebda.

23 Zit. nach Hess (Anm.8), S.82

24 Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Athenäum, Frankfurt a.M.-Bonn 1960, S.162

25 Brassaï (Anm.6), S.27

26 Brassaï (Anm.6), S.109

27 Ebda.

28 Brassaï (Anm.6), S.121

29 Brassaï (Anm.6), S.128

30 Henri-Georges Clouzot: Le Mystére Picasso,1956 (als DVD im Handel erhältlich)

31 Zit. nach Hess (Anm.8), S.83

32 Zit. nach Hess (Anm.8), S.85

33 Zit. nach Hess (Anm.8), S.86

34 Zit. nach Hess (Anm.8), S.84

35 Zit nach: Knut Nievers:Picasso – Avantgardist oder 19. Jahrhundert?In: P. Rautmann-E. Jung-H.M. Hingerl (Hgg.): Was glauben Sie denn ist Picasso? Verlag Atelier im Bauernhaus Fischerhude, 1985, S.169

36 Nievers (Anm.35), S.170

37 Zit. nach Hess (Anm.8), S.83

38 Wassily Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche. 1926,7. Aufl. Benteli Verlag, Bern-Bümpliz 1973, s.13

39 Kandinsky (Anm.38), S.19

40 Bazon Brock: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978-1986. DuMont,Ostfildern 1986

41 John E. Bowlt: Wassily Kandinsky: Verbindungen zu Russland, 1980. Wiederabdruck in: Wassily Kandinsky. Die Erste Sowjetische Retrospektive. Katalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt 1989, S.73

42 Felix Thürlemann: Kandinsky über Kandinsky. Der Künstler als Interpret eigener Werke. Benteli Verlag Bern 1986, S.21

43 Thürlemannn (Anm.42), S.52

44 Zit nach: Thürlemannn (Anm.42), S.23

45 Vgl.: Ephraim Kishon: „Picasso war kein Scharlatan. Wenn er gewollt hätte, hätte er wie Giotto und Tizian malen können. Doch er wollte nicht.“ In: Picasso war kein Scharlatan. Langen-Mueller Verlag, München 1986

46 Gohr (Anm.10)

47 Ebda.

48 Zit nach: Thürlemannn (Anm.36), S.47

49 Zit. nach Hess (Anm.8), S.82

50 Kasimir Malewitsch: Suprematismus – Die gegenstandslose Welt. DuMont Dokumente, Köln 1962, S.64 u.a.O.

 

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